Das Fahren bis an die Grenze(n)
Die Dämmerung setzt sehr früh ein und es wäre jetzt der richtige Zeitpunkt aufzubrechen. Ich bleibe noch eine Stunde liegen, bis ich mich eine Stunde später aufraffe und um 06:00 Uhr alles zusammenpacke. Das Zelt ist von der hohen Luftfeuchte klitschnass und ich bemühe mich mit den Zeltbahnen so wenig Kontakt wie möglich zu bekommen. Die Wassertropfen über mir hängen wie am seidenen Pfaden. Ich mache von mir ein Selfie und ich sehe schrecklich aus. Die Augen sind zugequollen, die Haare verwüstet und die Augen leicht verkrustet. Ein perfekter Morgen wie er im Buche steht. Der Kunstfaserschlafsack von Haglöfs, den wir damals in Norwegen für 40€ geschossen hatten, hat mir Nachts die Treue geschworen und mich erstaunlicherweise trotz der 5°C und hoher Luftfeuchtigkeit gewärmt.
Es ist noch recht bewölkt und ich strampel den ersten Berg im 2. Gang hoch. Der Weg ist noch immer sehr sandig und man schwimmt sozusagen mit seinem Fahrrad auf der Fahrspur. Ich erreiche Passewalk und hole mir Geld von der Bank. Kurzzeitig überlege ich leckeren Spargel mit Schnitzel zu essen, aber der Hunger ist nicht da. Kein gutes Zeichen. Nach 25km mache ich mehrere Pausen, weil ich merke, dass mein Körper heute nicht so recht will. Irgendwie fehlt mir der Antrieb und die physische Entschlossenheit noch mal mindestens 160km zu fahren. Ich habe mir stets vorgenommen, die gesamte Tour in zwei Tagen zu fahren. Doch die Realität ist härter als ich dachte. Bin ich doch von der skandinavischen Verkehrsstruktur für Fahrrader zu verwöhnt gewesen, so habe ich die falsche Motivation. Der Gegenwind macht es mir da auch nicht leichter, peitscht er teils mit 40km/h Böen gegen mich und mein Fahrrad. Heute ist kämpfen angesagt. Ich komme sehr bald an der Uckermark vorbei, die einem großen militärischen Gelände gleicht. Kasernen, Bundeswehrfahrzeuge und Schilder an den Waldrändern, die groß mit Betreten Verboten warnen. Ich hole mir am Netto zwei Cappucinos, Eierwaffeln und ein belegtes Brötchen. Vom Brötchen schaffe ich nur die Hälfte. Die Natur wird bald wieder ansehnlicher und so lande ich ein einem großen Naturreservat. Zwischendurch führt der Radweg und man landet im Herzen der Natur. Die Sonne kommt immer mehr zum Vorschein. Wolken lockern sich auf & meine Laune wird etwas besser, so dass ich öfter längere Pausen einlege.
Kurz hinter Ueckermünde werde ich vor die Entscheidung gestellt, ob ich eine Abkürzung von 35km mit der Fähre nehmen möchte. Das kommt für mich aber nicht infrage, weil ich stur wie ein Bock die Route fahren möchte. Für mich sind das Cheater, die im Spiel damals "noclip" eingegeben habe, um eine aussichtslose Situation komfortabel zu überbrücken. Im Endeffekt wäre das für mich die bessere Entscheidung gewesen, denn der Weg bzw. der Abschnitt ist der Schlimmste der gesamten Tour. Alte DDR-Betonplatten ziehen sich über Kilomter hinweg durch die weite Prärie. Sie sind geflickt, zerbrochen,zertrümmert, angeschrägt & verwildert. Das Fahrrad wird nur so durchgeschüttelt und vom Weg misshandelt. Aus meiner Sicht keine rühmliche Leistung, sowas als offiziellen Weg auszuweisen. Deswegen hat man es sich wohl bequem gemacht, die Fähre anzubieten. Noch schlimmer ist, dass ich zu der Zeit unterwegs bin, in der die Bauern Schweinegülle ausstreuen. Mir ist teilweise kotzübel vom Gestank. Anders kann man es nicht beschreiben. Nachdem das Fahrrad & Ich die Tortour überstanden haben, erreiche ich zunächst den Anklamer Bruch mit seiner wunderschönen & vielfältigen Flora/Fauna und alsbald den Übergang vom Festland zur Insel Usedom. Die Zecheriner Brücke (B 110) ist mit der Peenebrücke (B 111) in Wolgast die einzige Möglichkeit innerhalb von Deutschland auf die Insel zu kommen. Ich habe das Glück, dass die Brücke passierbar ist und freue mich endlich angekommen zu sein. Vor mir liegen dennoch noch einige, weitere & anstrengende Kilometer.
Ausser der Waffel und den Cappucinos habe ich den tagüber noch nicht viel zu mir genommen. Klar trinke ich immer mal wieder Wasser, denn ich verlieren genügend Flüssigkeit, auch wenn ich kaum schwitze. Mein Bauch fühlt sich seltsam aufgebläht an und ich fühle mich leicht unwohl. Ich sehe es kaum, dass ich heute Peenemünde erreiche. Ich werde auch die gesamte Tour nicht mehr bis nach Berlin zurückfahren. Hatte ich mir das noch am Anfang meines Planes vorgenommen, knickt mein Körper doch ein und ich dehne die zwei Tage auf drei aus. Auf der ganze Tour treffe ich kaum auf Radfahrer, die so aussehen könnte, als würden sie dasselbe machen wie ich. Dabei ist das Wetter herrlich. Auch scheint die Saison noch nicht in Gange zu sein, denn an den Rastplätzen sind die Kioske noch nicht offen. Ich decke mich notdürftig im Netto ein, habe ich an sich doch alles dabei. Ich hole mir eine Fanta aus dem Supermarkt, setze mich auf die Wiese am Strassenrand und sehe vor mir eine Mutter mit ihrem Kind, wie es auf der grünen Fläche zu würgen beginnt. Ich verfolge das Schauspiel aus einer sicheren Distanz, bis das Kind sieht, dass ich da sitze. Es kann sich nicht mehr übergeben. Ich habe seine Übelkeit mit bloßer Anwesendheit bekämpft. Ein Magier mit einer Dose Fanta in der Hand. Ich sattel auf meinem Rahdus 2000 auf und fahre durch die leicht hügelige Landschaft Usedoms. Alles ganz nett anzuschauen. Die Häuser mit ihren Schilfdächern und das Meer oder zumindest das Stettiner Haff ist aus der Ferne zu sehen. Hauptsache eine Menge Wasser. Deswegen bin ich hier.
Auf der Strecke quert man ab Garz die Insel Richtung Norden durch die Zerninsee-Senke. Es geht wieder durch große Waldgebiete mit sandigem, meist festem Untergrund bergauf und bergab. So oft, dass ich gezwungen bin im 1. Gang den Berg hochzufahren. Die Anstiege sind nicht extrem oder gar weit, aber die Strecke an sich zehrt an mir. Nicht, dass ich Muskelkater hätte; irgendetwas anderes scheint in mir vorzugehen. Ich komme an Korswandt vorbei und erreiche gegen späten Nachmittag endlich das Seebad Ahlbeck, wo ich eine Pause von 1 1/2 Stunden einlege. Ich fahre bis zur Dühne hoch und schiebe das Rad den Strand hinunter. Sehr mühsam das Ganze. Ich gehe den Strand entlang und freue mich an meinem eigentlichem Ziel, dem Meer, wieder so nah zu sein. Der Strand hat einige Strandkörbe, die leider geschlossen sind. Ich lehne mich dennoch an einem an und genieße die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages. Ich nicke fast weg und beschließe mich in Bewegung zu setzen, denn ich benötige einen Schlafplatz. Körperlich geht es mir überhaupt nicht gut. Ich stoße die ganze Zeit über auf und habe einen seltsam aufgeblähten Bauch/Magen. Appetitlosigkeit ist immer noch da und ich hole mir nicht mal ein Fischbrötchen oder sonstiges als Belohnung für meine Ankunft am Meer. Ihr seht, die Lage scheint ernst zu sein. Nachdem ich mich aufmache fängt es an mich durchzuschütteln. Schüttelfrostartige Schübe durchfahren meinen Körper und meine Zähnen fangen an zu bibbern. Es sind immer noch 16°C und ich habe 3-Schichten am Oberkörper anzuliegen. Ich scheine physisch komplett fertig zu sein. Ich schaffe es irgendwie bis hinter Heringsdorf und finde eine geeigne Stelle zum zelten, wenngleich sie nicht unweit eines Hotels liegt. Generell ist hier alles sehr neu & eng bebaut, dass alles einem Kur-Areal ähnelt und dient. Zelte sind hier sicherlich noch verpöhnter, als sonst wo, aber das ist mir momentan egal. Ich baue alles relativ zügig auf. Dabei wird mir immer wieder schlecht & schwindelig, so dass ich mich hinsetze. Ich blase die Isomatte mit aller Mühe im sitzen auf und verschwinde 2 Minuten später im Zelt. Es ist 19:15 Uhr und noch hell. Ich sehe wie mir ein Jogger hinterschaut, als ich ins Zelt gehe. Soll er ruhig petzen, dass ich hier zelte, denke ich mir. Eigentlich wollte ich noch meiner Freundin schreiben, aber schaffe es nicht mehr. Ich liege mit Magenkrämpfen im Schlafsack und schließ die Augen. Sekunden später liege ich im Dilerium.
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