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Finnland: Porojen Lukeminen

Wir sehen heute mehr Rentiere als Menschen, hier oben, im finnischen Lappland. Elina (unsere AirBnB-Vermieterin) hatte uns gestern angeboten, dass wir zwischen 09 und 10 Uhr von einem Nachbar abgeholt werden. Der wiederum besitzt ein Wintergehege für die Rentiere seines Sohnes. Wir dürfen heute so nah wie noch nie an die Rentiere. Wie aufregend! Wer kann schon von sich behaupten so viele, puschelige Rentierhintern in einem Leben gesehen zu haben?

 

Nach einem kurzen Spaziergang und Frühstück mit Brot, Aufstrich und Käse harren wir in unserer Hütte aus, bis Sarah draußen ein Quad, oder 4-Wheeler, wahrnimmt. Es hält lautstark vor unserer Tür. Raina, der Nachbar, ist da und wir ziehen uns so schnell es geht an. 

 

Als ich das Quad sehe, kann kaum glauben, dass wir auf diesen kleinen Sitz mit Rentierfell rauf passen. Doch irgendwie klappt es und ich sitze eingequetscht wie eine Sardine in der Sardinenbüchse. Raina beschleunigt das Quad und die kühle Luft bläst uns spürbar in unsere Gesichter. Was hier für die Leute Alltag ist, bringt unserem Urlaub einen Gewissen Grad an  Coolness und eine Priese Action. Auch ohne Jochen Schweizer.

MIT DEM QUAD ZUR RENTIERFÜTTERUNG

Nach nur drei Minuten ist leider Schluss mit Lustig und wir erreichen das Gehege. Als wir auf das Gelände fahren, sehen wir auf der rechten Seite eine ganze Menge von Rentieren, die die Fütterung kaum erwarten können. Rainas Sohn hatte leider keine Zeit uns abzuholen, denn er kann, im Gegensatz zu seinem Vater, englisch sprechen. Wir unterhalten uns sprichwörtlich mit Händen und Füßen. Über all unseren Köpfen hingen Fragezeichen, wenn wir versuchen miteinander zu kommunizieren. Sarah und ich können uns kein wirkliches Bild der finnischen Sprache machen. Kann man sich bei anderen Sprachen noch halbwegs was bei denken, weil sie parallen mit der eigenen Sprache aufweist, so ist das beim finnischen, zumindest für uns, schier unmöglich.

 

Raina holt die Eimer mit dem Trockenfutter (Pellets). Ich bekomme einen fest in die Hand gedrückt und schneide mit dem Futter eine lange Schneise. Sarah und ich sind super aufgeregt und wissen gar nicht, was wir zuerst fotografieren sollen. Um uns herum sind locker 100 Tiere, die ihren Hunger stillen wollen.

 

Glücklicherweise verletzen sie weder sich noch uns. Generell sind die männlichen Artgenossen in den Herbst-/Wintermonaten zur Brunftzeit etwas agressiv.

 

 

Bei der Fütterung taucht ein weiterer Züchter auf, der sich uns nicht weiter vorstellt, was nicht schlimm ist. Wahrscheinlich sieht er uns an, dass wir Feuer & Flamme für Rentiere sind. Auf dem Grundstück befindet sich ein kleiner Teich auf den uns Raina führt. Er ist durch die konstanten Minustemperaturen bis zu 60cm gefroren. Ich frage ihn, ob er hier fischt, aber er schüttelt lächelnd den Kopf. Entweder weiß er nicht, was ich mit meiner Angel-Geste meine, oder wir verstehen uns einfach so. Ein Lachen ist sowieso die schönste Sprache, die es gibt. Darum mache ich für ihn noch einen Moonwalk auf dem Eis.

Mit Füssen, Händen & Kalender

Wir sind auf der Sandstrasse unterwegs. Ich versuche mit Sarah ein Selfie zu machen, ganz nach Touristen-Marnier. Raina biegt plötzlich links auf sein Grundstück ab und bittet uns in sein Haus. Er fragt uns, ob wir Tee oder Kaffee wollen. Die einzigen Wörter, die wir halbwegs verstehen und nicken verständnisvoll zu. Sein Haus ist finnisch, traditionell eingerichtet. Spartanisch, aber dennoch gemütlich. Als ich das Wohnzimmer betrete, fallen mir sofort die, in chronologischer Reihenfolge angeordneten Bilder von seinen Kindern ins Auge. Raina erklärt mir, dass er drei Söhne habe, die aber alle ausgezogen seinen. Sarah und ich gehen weiter in die Küche. Wir erblicken einen gedeckten Tisch mit zwei Tellern. Raina hat extra für uns ein Frühstück zubereitet, ohne, dass wir davon wussten. Was eine Überraschung und was für eine tolle Geste der Gastfreundschaft. Wir setzen uns und sehen  typisch finnisches Brot, frisch gekühlte Cloudberries, ein Glas voller Zucker, in Scheiben geschnittener Rentierschinken, der, wie Raina es uns mit Salz und Kalender vermittelt, drei Wochen in Salz eingelegt und konserviert wird. Wir probieren es und es schmeckt vorzüglich.

Nach ein paar Minuten verschütte ich eine Tasse Instant-Ingwer-Tee aus Indonesien einmal quer über den Tisch. Die Schattenseite der ausschweifenden Verständigung mit den Händen. Raina bringt mir schnell wie der Blitz zwei Einwegtücher. Danach reicht er uns aus den Tiefen seines Kühlschranks gekochtes Rentierfleisch, was ein wenig wie Ente schmeckt. Ich zeige ihm auf das Fleisch, auf meinem Mund und mache das Geräusch einer Ente nach. Ich glaube nicht, dass er es verstanden hat.

 

Als Nachtisch gibt es Quitschekäse mit Cloudberries, die direkt darauf kommen. Raina vermittelt uns, dass sie reich an Vitamin C sind. Ich versputze deswegen die ganze Schale. In Kombination mit dem Käse, der wirklich ultramild ist und den Beeren, samt Zucker, haben wir einen super leckeren Nachtisch. Wir sind an sich noch vom ersten Frühstück satt, aber der Freundlichkeit halber verspeisen wir alles. 

 

Wir versuchen uns weiterhin so gut wie irgendmöglich zu unterhalten, aber das Ganze läuft irgendwie ins Leere. Ich denke das Wichtigste ist, dass wir Kiitos sagen und er es uns auch ansieht, dass wir für diese Überraschung sehr dankbar sind.

Wir verlassen Raina & Pika, den Hund,  und machen uns zu Fuß auf den Weg zurück. Auf dem Weg treffen wir auf die selben 3 Rentiere, die uns hier schon häufiger begegnet sind. Sie sind extrem zutraulich, dass wir darüber froh und gleichermaßen überrascht sind. Sind doch Rentiere aus unserer Sicht immer sehr scheu, wenn wir welche gesehen haben, entsteht jetzt ein anderer Eindruck.. Sie scheinen zu  sehr an die paar Menschen hier gewöhnt zu sein. Sie kommen dennoch nicht so nah heran, so dass man sie hätte streicheln können.

Von Rallyfahrerinnen, Schlaglöchern & Mathe-liebhabern

Um kurz nach halb 11 treffen wir auf Elina, Kari & Hund Roki. Sie bereiten gerade die Pferde vor, da sie Sie sogut wie jeden Tag für kommenden Meisterschaften trainieren. Dafür wird eine Art kleiner Hänger mit gepolsterter Sitzfläche hinter die Pferde gespannt und in den Wald gefahren. Eine sehr ruhige und gleichzeitig bewegende Art, so den Tag zu starten & zu beenden. Mir gefällt das ländliche Idyll, da es kaum ruhiger und minimalistischer zugehen kann. Wer will kann sogar draußen, ganz biologisch, das Plumpsklo benutzen.

Sarah & Ich wärmen uns in der Zwischenzeit in unserer gemütlichen Unterkunft auf. Es ist ein großer Raum mit Tisch, Stühlen, einem großen Bett und integrierter Küche. Zusätzlich gibt es einen Raum mit einer Toilette. Fussbodenheizung ist inbegriffen. Alles ist sehr hell, freundlich & einladend gestaltet, ohne dass es seinen traditionellen Geist verliert. Sarah setzt heißes Wasser für den Tee auf und gießt ihn anschließend in die Tassen. Ich umschließe sie, um meine Hände zu wärmen. Im Augenwinkel sehe ich, wie Kari und darauffolgend Elina mit ihren Pferden zurück kommen. Ohne großen Stress trinken wir den Tee aus und ziehen uns mollig warm an.

 

Draußen ist es für lappländische Verhältnisse sehr mild. Das Thermometer zeigt -2°C an und dennoch entschließe ich mich dafür vier Schichten (Layer) anzuziehen. Ich habe keine Ahnung, wie lange das "Reading" der Rentiere dauern wird. Wir treffen draußen auf Elina & Kari und gehen mit ihrem Hund Roki ins Auto. Hier ziehe ich die 2 Jacken aus, denn im Auto ist es nur mit T-Shirt angenehm warm, nicht aber mit 1 Langarmshirt, Merinopullover, Thermoball- und Daunenjacke darüber. 

Wenn Kari am Lenkrad ist, könnte man denken, dass wir mit einem Rallye-Fahrer unterwegs sind. Er scheut weder Schlaglöcher noch Bodenwellen. Manchmal kommt das Gefühl auf, dass das beim Auto jeden Moment die Federungen brechen könnten. Ich erzähle Elina passend, dass ich ein begeisterter Rallye-Fan bin (zumindest auf der alten XBOX Konsole) und sie frage, ob man hier auch Rallye fährt. Mit strahlenden Augen und einem warmherzigen lächeln erzählt sie mir von ihren vergangenen Tagen, als sie selbst Rallye gefahren ist. Ihr Ex-Freund war damals in Mathematik so gut und übernahm den Beifahrer, der für die entsprechende Berechnung und Koordination der Strecke verantwortlich ist. Sie meint gleichzeitig, dass es nicht die teuersten Marken sind, mit denen sie gefahren ist, weil ich, wie aus einer Pistole geschossen, Subaru, Citroen, VW. Mitsubishi erwähne. Elina erzählt, dass die Autos keine großen Sponsoren hatten und deswegen nicht ganz die bekannten Marken waren. Dennoch kann man sich nach dem Rennen das Auto für läppische 3.500€ kaufen. Alle Autos haben den gleichen Wert. Für mich wäre es schön, wenn es ein Mitshubishi Lancer EVO VII, Citroen Xsara WRC oder Suabaru Impreza WRX wären.

Wäre der Fluss Ounasjoki Riihikuoppa aufgrund geringerer Temperaturen zugefroren gewesen, hätten wir nur 5 Minuten mit dem Auto gebraucht, da hier tatsächlich Eisbrücken angefertigt werden, damit man keine großen Umwege zu den richtigen Brücken nehmen braucht. Nach ungefähr 30 Minuten erreichen wir den Ort des Happenings, wie Elina so schön sagt. Auf dem provisorischen Parkplatz stehen schon einige Transporter & Quads. Eine mittelgroße Feuerstelle brennt und knistert vor sich hin. Als wir aussteigen laufen wir zum Eingang des Geheges, wo die Rentiere zusammengetrieben werden. Schon am Auto nehme ich den leicht süßlichen Duft des Holzes in mir auf, der durch leichten Wind hier rüber getrieben wird.

Porojen Lukeminen - Das Auslesen der Rentiere

Wie der Titel es schon grob beschreibt, werden bei diesem Spektakel ein paar Mal im Jahr Rentiere von den Züchtern ausgelesen. Da sich Rentiere in Finnland frei bewegen ist es schwierig den Eigentümer festzustellen. Hierfür gibt es eine Art Symbole, die wie Runen mit einem Messer in das Fell der Rentiere geschnitzt wird, ohne Verletzungen oder großen einbußen der Wärmeleistung des Fells. 

 

Zunächst befinden sich mehrere hundert Rentiere in einem, ich nenne es mal Freilauf, wo sie von mehreren Züchtern & Helfern mit Hilfe einer schwarzen Plane so zusammengetrieben werden, so dass sie anschließend in einen kleineren Kreis laufen, wo die eigentliche Prozedur stattfindet. 

In der Mitte steht jemand mit Stift und Zettel. Auf diesem stehen die jeweiligen Züchter und dessen Zeichen. Erkennt der Züchter sein Rentier, packt er es am Geweih, was meistens zur Sicherheit mit einem Gehilfen durchgeführt wird. Es kommt nicht oft vor, aber dennoch passiert es, dass man ausrutscht und/ oder von der Kraft des Rentieres umgeworfen wird, so dass helfende Hände hier böse Verletzungen abwenden können. 

 

Ist das Rentier am Geweih gepackt, wird das jeweilige Zeichen, welches dem Züchter zugeordnet ist ins Fell geschnitten und per Strichliste auf den Zettel eingetragen. Nach der Eintragung geht es in einen speziellen Sektor bzw. kleineres Gehege. Dafür wird ein Schiebetür aus Holz geöffnet und dort hineingeschoben, bis es eigenwillig dort hinein geht. 

 

Um die Tiere im Inner Circle nicht ganz zu stressen, wird das ganze für eine bestimmte Zeit gemacht und die restlichen Tiere wieder in den Freilauf entlassen. 

Zwischen Freude & Angst

Elina braucht mich nicht zu fragen, denn ich will freiweillig in den Inner Circle. Dort, wo die Rentiere am Geweih gepackt und mit dem markiert werden. Im Inner Circle selbst befinden sich locker 20-25 Leute, die sich zu Vorteil für mich, mir gegenüber sehr passiv verhalten. Niemand sagt mir, dass ich mich an den Rand stellen soll bzw. wie ich mich verhalten soll. Perfekt für eine unverfälschte Dokumentation

 

Es ist anfangs dennoch sehr ungewohnt für mich mit 25 Menschen und 50 Rentieren auf engstem Raum zusammengepfercht zu sein. Haben doch viele der Rentiere relativ große Geweihe. Immer wieder versuchen sich von den "Fängern" davon zu laufen. Nicht immer nehmen sie den komfortabelsten Weg, außen entlang, sondern laufen oftmals direkt durch die Mitte der Leute und auch an mir vorbei. 

 

Ich habe generell das Gefühl genau falsch und gleichermaßen richtig zu sehen. Falsch, weil ich es doch mal kurzzeitig mit Angst & Respekt zu tun bekommen, wenn sie regelrecht vorbei rennen wie ein Fluss, der sich den Weg um einen Felsen sucht. Richtig, weil ich hautnah im Getümmel bin. Ich spüre die ganze Energie und Magie der Rentiere um mich herum und fühle mich nicht so, als ob ich stören würde. Mit meiner Kamera in der Hand mache ich Unmengen an Fotos & Videos, um diese Momente hautnah für euch festzuhalten. 

 

 

Stellt euch vor, ihr steht mitten in einer Horde von Rentieren, die Luft ist kalt, Staub wird durch die Hufen aufgewirbelt. Die Sonnenstrahlen brechen durch die Gatter, der Gehege und werden durch die feinen Sandpartikel sichtbar. Man sieht den feuchten, erhitzten Atem der Rentiere, die um einen selbst rotieren. Die großen, dunklen Augen gucken euch an und bewegen sich wie in einer großen Einheit. 

Die ruhe nach dem sturm

Nach der ganzen Aufregung wird es sehr schnell ruhig. Die Rentiere sind wieder in die Freiheit entlassen worden. Zumindest bis auf einige, die dem Schicksal erleiden, dass wir uns nicht weiter angucken wollen. Auch, wenn bei mir vorerst Interesse da ist, denke ich recht schnell um, denn ich will nicht unbedingt sehen, wie ein Rentier getötet und dann geschlachtet wird. Hatte ich das noch als Kind selber mit angesehen, brauch ich das als Erwachsener nicht mehr. Das soll nicht heißen, dass ich davor die Augen verschließe. Daran erlaben will ich mich aber nicht. 

 

Ich unterhalte mich noch etwas mit Elina am Lagerfeuer, was schon heruntergebrannt ist. Der starke, teils süßliche Geruch von verbranntem Holz wird immer wieder zu uns herüber geweht. Die Oma mit der Sarah vorhin gesprochen hatte, fragt uns, ob wir Morgen zum Schlachten dabei sein wollen. Wir sagen nicht ab, aber auch nicht zu, sondern sagen zu ihr, dass wir es in Erwägung ziehen. 

Wir steigen ins Auto von Elina & Kari und fahren mit Roki, der von dem ganzen Trubel und vor allen Dingen, der superwarmen Lüftung des Autos immer wieder die Augenlider zufallen lässt und es sich zwischen Sarah und mir auf der Rücksitzbank bequem gemacht hat. Ich kraule sein Fell und seinen Kopf, was er sichtlich genießt. 

 

Bevor es endgültig nach Hause geht, machen wir einen Halt an einer Art Rasthütte, wo man deftiges Essen, Kuchen und was warmes zu Trinken zu sich nehmen kann. Genau das Richtige für uns. Durch das lange herumstehen sind wir doch gut ausgekühlt. Ein warmer Kakao und Tee heizen uns gut ein. Wir treffen dabei auf den Züchter, der heute früh bei der Fütterung dazugestoßen war.

 

 

Die Welt hier um Kittilä ist sichtlich klein. 

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